Die Erschliessung der Route „Big Magic Mamma“

WASSERRILLEN UND KUEHE

„In Brasilien regnet es nie zu dieser Jahreszeit!“ Und dann hat es geschüttet wie aus Kübeln. Aber der Reihe nach. Inmitten der hügligen Landschaft von Brasiliens Osten dominiert ein riesiger Granitmonolith die Umgebung um das kleine Dorf São José do Divino. Die Pedra Riscada – wie der Monolith heisst – gilt als der grösste Felskoloss dieser Art in ganz Südamerika. Senkrechte Wasserrillen von einem Dutzend Meter Durchmesser ragen an strukturarmen Felswänden über 1200 m in den Himmel. Gemäss den Worten des Profikletterers Stefan Glowacz, dem 2009 an eben diesem Berg zusammen mit einem internationalen Team die Erstbegehung der Route „Place of Happiness (7c+)“  gelang, sind „die Felsbollwerke von Minas Gerais in der westlichen Kletterszene nahezu völlig unbekannt und durch ihre Kompaktheit, .., extrem schwierig zu erschliessen“.

Im Sommer 2014 machen wir uns also neugierig auf den Weg, um an der Pedra Riscada eine neue Route erst zu begehen.

Vorbereitung

Die meisten aus unserer Sechsergruppe haben wenig oder gar keine Erfahrung im Erschliessen von Kletterrouten und im Umgang mit einem Bohrhammer. Dennoch wollen wir die Seillängen im klassischen Stil von unten einbohren. Dazu bilden wir drei Zweierteams: Ein erstes Team würde die Route in der Wand vorantreiben und am Abend in der Dunkelheit abseilen. Ein zweites Team befände sich am selben Tag bereits im Aufstieg ans Routenende, wo es die Nacht im Portaledge verbrächte, um die Route am nächsten Tag ausgeruht und ohne Zeitverlust weiterzuführen. Team drei würde indessen im Basecamp einen Ruhetag geniessen. So unser Plan. Bohrhaken setzen, Portaledge in der Wand aufbauen und das hieven des Haulbags können wir nur in minimalem Ausmass in der Schweiz trainieren. Begeisterung und Unerschrockenheit müssen deshalb anstelle von Erfahrung treten. Bei aller Abenteuerbereitschaft ist uns jedoch von Anfang an bewusst, dass wir einen Unfall in der Wand um alles in der Welt vermeiden müssen. Hilfe von Aussen ist in dieser entlegenen Ecke der Erde nicht zu erwarten. Wir trainieren deshalb minutiös Bergungen aus der Wand für alle erdenklichen Situation, in welchen trotz allem dennoch etwas schief gehen könnte.

Am 16. Juli 2014 checken wir schliesslich mit 240 kg Material in Zürich ein mit Destination Belo Horizonte, wo wir nach einem Zwischenstopp in Lissabon und insgesamt 12 Flugstunden landen. Gleich am Flughafen nehmen wir unsere zwei kleinen Mietwagen in Empfang und kaum losgefahren ist es schon finster. In Äquatornähe gibt es so gut wie keine Dämmerung. Die Fahrt bis São José do Divino über 470 km gute Landstrassen dauert um die 7 Stunden. Essen kann man in einer der zahlreichen Raststätten auf dem Weg dorthin; das Essen ist sehr gut. Weder verstehen wir die Einwohner noch sie uns. Trotzdem sind alle freundlich. Müde von Flug und Fahrt suchen wir auf halber Wegstrecke eine Übernachtungsmöglichkeit. Die Motels am Weg tragen  einladende Namen wie „Free Love“ und „Extasy“ und sind Etablissements, die wir bei uns nicht als Motels bezeichnen würden.

Wir schlafen trotzdem gut und fahren am nächsten Tag erholt weiter. LKWs, LKWs und nochmals LKWs. Überholt wird vor Kurven, über die Doppellinie und bei eingeschränkter Sicht. Gott muss ein Brasilianer sein. Nach São José do Divino fahren wir zwischen Kuhweiden über eine 30 km lange Staubpiste und erreichen endlich unser Basecamp am Ende der Welt. Dort werden wir herzlich von Edi empfangen, dem selbsternannten Kletterbeauftragten von São José do Divino. Das von ihm und im Auftrag der Stadt gebaute Haus darf von Kletterern der ganzen Welt genutzt werden. Die Unterkunft ist ideal als Ausgangspunkt für eine Begehung einer der Routen an der Pedra Riscada und zudem wunderschön gelegen.

Route

Die Pedra Riscada ist von keiner Seite leicht zu besteigen, das war uns schon zu Beginn bewusst. Mit Feldstechern ausgerüstet versuchen wir eine geeignete Linie für unsere Erstbegehung zu finden. Die favorisierte Route über den Vorbau der Westwand steht wegen der quälenden Sonneneinstrahlung plötzlich in Frage, dies leider erst, nachdem wir uns schon durch Mückenschwärme und dichten Dschungel seitlich auf den Vorbau gekämpft haben. Favoritin ist nun eine mögliche Linie in der Südwand. Mit Kletter- und Bohrmaterial machen wir uns auf den Weg dorthin. Noch sind einige Fragen offen: Ist der Wandfuss kletterbar? Gelingt es uns die Dachpassage etwa in der Mitte der Südwand zu bezwingen? Werden wir es überhaupt jemals zum Wandfuss schaffen?

Der Dschungel ist dicht und ursprünglich und trotz der vielen Termitennestern, Lianen und des dichten Unterholzes stehen wir schliesslich dreckig, zerkratzt und zerstochen vor dem potentiellen Einstieg. Die Wand, sie verschwindet im Waldboden wie ein eingerammter Spaten, scheint im unteren Bereich mit einer dünnen Algen- und Flechtenschicht bedeckt zu sein. Peter ist skeptisch, ob die Einstiegslängen möglich sind. Fabio behauptet von einem Baumwipfel aus,  gute Strukturen zu erkennen. Doch da er auch behauptet, dass sich Affen in der Wand austoben, bleibt Peter vorerst zurückhaltend. Wir wagen einen ersten Versuch und schon bald wird klar: Es geht! Erleichterung überkommt uns. Wir werden heute klettern und den Affen Gesellschaft leisten.

Der Tag, an dem der Regen kam

Während der ersten Klettertage kommen wir gut voran. 150 m reine Kletterlänge liegen täglich drin. In den ersten zwei Seillängen bewegen wir uns in schwarzem, senkrechtem Fels mit Leisten und Absätzen. Danach flacht die Wand etwas ab und bietet eine schöne Plattenkletterei, welche vor dem dominanten Dach allmählich an Steilheit gewinnt. Der durchwegs fein strukturierte Fels ist einzigartig zu klettern. Unzählige Nuggets und Crimps bieten schönen Halt und Tritt, doch einige davon brechen schon bei der kleinsten Belastung aus. Die Erstbegehung der Seillängen ist deshalb psychisch anspruchsvoll und die Erst-Kletterei gleicht oft einem Tanz auf Eiern. Wir nennen es „brasilianisches Roulette“. Nach mehrmaligem Durchklettern sind allerdings nur noch die festen Griffe vorhanden und unsere Freude an den schönen Seillängen wird immer grösser. Eine 8 m lange, steile Platte mit Schuppen führt weiter zu einem Dach in gelbem Fels mit guten Leisten. Die Schlüsselstelle (7b) ist eine 5 m lange Linkstraverse, vom Ausstieg aus dem Dach hin zu einer tiefen und 2 m breiten Wasserrille. Mit grosser Spannung verfolgen wir vom Boden aus die Bohrfortschritte von Peter und Francesca in dieser Schlüsselseillänge.

„Während eines Ruhetages lernen Peter, Edi und Francesca einen Bauern aus der Umgebung kennen. Er ist sehr an der Beschaffenheit der Pedra Riscada interessiert und bittet uns, ihm eine grosse Taschenlampe zu schicken. Edi erklärt uns später, dass man in dieser Gegend glaube, der Monolith sei hohl und in seinem Inneren verberge sich ein Schatz. Schöner Gedanke!“

Im Verlauf der dritten Nacht in der Wand wechselt das Wetter. In Minutenabständen schütteln Sturmböen den regengetränkten Zeltstoff des Portaledge und ein feiner Sprühregen verteilt sich über unsere Gesichter. Schlafen ist unter solchen Umständen schwierig. Wieso es zu dieser Jahreszeit in Minas Gerais regnet, weiss auch später im Dorf niemand zu beantworten. Am Morgen klart das Wetter etwas auf und allmählich trocknet der Fels am Routenende. Die erste Seillänge am Wandfuss allerdings bleibt an diesem Tag lange nass und birgt für das aufsteigende Team eine Überraschung. Die Einstiegslänge, bei trockenen Verhältnissen eine wahre Genusskletterei, verwandelt sich nach Regen in einen grünen Albtraum. Null Halt bietet der nun leuchtend grüne Überzug aus Algen und Flechten. In den nächsten drei Tagen bleibt es dann doch mehrheitlich trocken und die Route gewinnt an Höhe. Seillängen 8 – 12 verlaufen manchmal innerhalb und manchmal ausserhalb der Wasserrillen. In der Seillänge 13 erwartet uns in steilem Gelände ein betonähnlicher Wulst, welchen man mit einer athletischen Boulderkombination und abschliessendem Dynamo gewinnt (7a+). Es scheint, als wäre die vergangene Sturmnacht nur ein Vorbote des drohenden Wetterumschwungs gewesen. Nach einer weiteren regnerischen Nacht verschlechtert sich das Wetter zusehends und ein Weiterkommen scheint utopisch. Ann-Karin und ich hängen wieder einmal an einem Stand und warten einen Regenschauer ab um danach vielleicht trotzdem noch weiter zu kommen.

Etwa 400 m weiter unten weiden die Kühe das spärliche und dürre Gras und wir denken: „Ferien wären auch mal wieder schön!“ Im Moment geht aber nichts mehr. Man kann es drehen und wenden wie man will, wenn es hier regnet, ist Klettern unmöglich. Nach acht Tagen in der Wand entscheiden wir uns, abzubrechen. Wir schätzen, dass wir vier Fünftel der Route eingerichtet haben. Das Aus scheint uns besonders bitter. Im Dauerregen muss das ganze Material aus der Wand geschafft und abgeseilt werden, wobei der Haulbag mit jeder Seillänge etwas an Gewicht zulegt. Claudia befindet sich am Stand zu Beginn der grossen Wasserrille, als sie ein Rauschen vernimmt. Innerhalb von Sekunden verwandelt sich die Rille in einen Sturzbach, einer Klospülung nicht unähnlich, und Claudia wird aus der Wand in ihre Selbstsicherung gerissen. Nichts wie runter! Die Abseilaktion zieht sich weit in die Dunkelheit hinein. Wir am Boden sind froh, als wir plötzlich die Stirnlampen von Claudia und Fabio im Dunkeln aufblitzen sehen. In etwa der Hälfte der Seillängen haben wir in den Tagen zuvor Fixseile verlegt. Diese bleiben vorerst dort. Wer weiss?

Total Go

Es ist Sonntag und am Donnerstag werden wir von Belo Horizonte, das eine Tagesfahrt von uns entfernt liegt, zurück in die Schweiz fliegen. Das Wetter ist weiterhin schlecht. Am Montag machen wir einen Ausflug mit Edi. Der Regenradar zeigt, dass sich die Schlechtwetterfront schneller verzieht als prognostiziert. Wir bräuchten nur noch einen einzigen trockenen Tag und der Gipfel der Pedra Riscada wäre in Griffnähe! Nach kurzer Diskussion planen wir die Aktion ‚Total Go!‘ für den Dienstag: Peter und Fabio steigen morgens um 3 Uhr in die Wand ein. Mit leichter Ausrüstung, Bohrhammer und gerade ausreichend Haken. Sie klettern zum Routenende mit dem Ziel: Beendigung der Unvollendeten. Die zwei anderen Teams klettern bei Tagesanbruch los und stossen gegen Abend zum Bohrteam, welches hoffentlich den Gipfel erreicht hat. Es zeigt sich, Seillängen 14 – 17 sind steil, kompakt und ausdauernd. Hier oben enden die Wasserrillen und die Wand neigt sich schlussendlich zurück, um den Weg für die 18. und letzte Seillänge zwischen die Büsche des Gipfels frei zu geben. Um 17 Uhr stehen alle gemeinsam und überglücklich auf dem Gipfel der Pedra Riscada.

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